30.10.2019 - Dr. Julia Forster

Die Frage nach Hoffnung in der Kinder- und Jugendhilfe

Wucht und Grandiosität zeichnen den Oscar-verdächtigen Film von Nora Fingerscheid aus. Mein Fokus als Systemikerin gilt hier der unbeantwortet gebliebenen Frage nach Lösungen, d.h. nach Möglichkeiten der aktuellen Kinder- und Jugendhilfe zur weitestgehenden Vermeidung derartiger Eskalationen und Schicksale.

Ich bin DGSF-zertifizierte Lehrtherapeutin im IFW Institut für Fort- und Weiterbildung und arbeite als Supervisorin, Trainerin und Systemische Familien-, Kinder- und Jugendtherapeutin in eigener Praxis. Als mittlerweile seit 20 Jahren in der Kinder- und Jugendhilfe tätige Pädagogin habe ich solche im Film schonungslos gezeigten, erschütternden Szenen früher auch live miterlebt. Die realistische Darstellung der aus unserem Versorgungs- und Behandlungssystem herausfallenden Kinder und Jugendlichen, die daraufhin massive, exzessive, sich selbst und die Außenwelt gefährdenden Verhaltensweisen entwickeln können, hat mich im Film besonders beeindruckt. Nach solchen Eskalationen bleiben auch in der Realität, wie im Film gezeigt wurde, grundsätzlich sowohl die betroffenen Klienten sowie alle Fachkräfte völlig erschöpft und ratlos zurück.

Die Verzweiflung und das ambivalente Verhalten einer liebenden, dennoch völlig hilflosen, dadurch oftmals kontraproduktiv handelnden und einer Erziehung des Kindes nicht mächtigen Mutter konnte besser nicht geschildert werden. Eine der anstrengendsten Herausforderungen in der Arbeit fremduntergebrachter Kinder ist es, den Eltern gegenüber die für die Arbeit unerlässliche Wertschätzung beizubehalten, selbst wenn sie oftmals mit ihrem unberechenbaren Auf- und Abtauchen im Leben der Kinder eine enorme Dynamik und Frustration auslösen.

Der Bedarf an zusätzlicher Professionalisierung bezüglich der Elternarbeit ist enorm. In sämtlichen IFW-Ausbildungen werden notwendige systemische Kompetenzen explizit, einfach und praxisnah vermittelt.

 

Eine Frage blieb an jenem Abend unbeantwortet und hat mich noch länger beschäftigt:

Welche Lösungen gibt es für die durch das Versorgungsnetz fallenden und hilflos hin- und hergeschobenen Kinder, für solch herzzerreißende und dramatische Extrem-Biographien der sogenannten Systemsprenger?

Natürlich habe auch ich keine Lösung parat, aber ein Beispiel für Hoffnung.

 

Alltag in der Jugendhilfe

Am Anfang meiner beruflichen Laufbahn, als Mitglied eines siebenköpfigen Fachkräfteteams in einem größeren Kinderheim, erfuhren wir viel Aggression, Verzweiflung, Gewalt und auch Hilflosigkeit auf allen fachlichen Ebenen. Wir befanden uns in einem Dilemma, in dem wir in unserem Sinne keine wirklich gute pädagogische und befriedigende Arbeit leisten konnten.

Das lag z.T. daran, dass folgeschwere Entscheidungen vorrangig nach wirtschaftlichen anstatt pädagogisch sinnvollen Gesichtspunkten getroffen wurden. Unter diesen strukturellen Bedingungen waren noch so professionelle und engagierte Helfer schon mit der Grundversorgung an ihren Grenzen oder drüber.

Eine Überbelegung aufseiten der Klienten bei gleichzeitig personeller Unterbelegung waren die Regel. Auf Vollbesetzung wurde streng geachtet. Die Prämisse war, freie Plätze sofort zu belegen ohne darauf zu achten, ob das neue Kind in die bestehende Gruppenstruktur passt.

 An Wochenenden hatte eine Fachkraft z. B. 24h alleine Dienst mit neun Kindern bzw. Jugendlichen, die aus Kostengründen aus verschiedenen Gruppen wild zusammengewürfelt wurden. Pädagogisch war das sinnbefreit bis hin zu fatal, denn deren Bedürfnissen konnte man nicht annähernd gerecht werden und so entwickelte sich immer wieder neuer Sprengstoff.

Kurz: die Kinder blieben bei den zur Verfügung stehenden staatlichen und institutionellen Mitteln und dem für uns Pädagogen ausbleibendem Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen (z.B. Aufnahme eines neuen Kindes in die Gruppe) unterversorgt und die Fachkräfte überfordert und frustriert.

Hinweise auf Burnout waren gängig und zeichneten sich auch bei uns im Team ab. Manche Helfer retteten sich durch Kündigung aus diesen krankmachenden Systemen und die Kinder verloren innerhalb kurzer Zeit wichtige (oft ihre wichtigsten!) Bezugspersonen und Beziehungen, sowie jegliches Vertrauen in ernsthafte Hilfestellung und Interesse an ihnen.

 

Systemisch interpretiert

Die Komplexität der für ein Kind zuständigen, manchmal bis zu 20 verschiedenen, ständig wechselnden Helfer ist nicht überschaubar. Die mit 80 Fällen völlig überforderten Jugendamtsmitarbeiter haben ebenso ein Problem. Umstände, die für Kinder, wie es Benni im „Systemsprenger“ so deutlich zeigte, nicht auszuhalten sind.

Diese Kinder „flippen mal wieder völlig zurecht aus“ und zeigen uns überdeutlich die Mängel am System durch ihre grenzenlose Verzweiflung, dass ihnen nicht ausreichend geholfen werden kann. Nach Ausflippen ist ja sogar vielen hochprofessionellen Erwachsenen zumute. Im Gegensatz zu den Kindern haben sie ein Privatleben und sind oft froh, nach einem langen Dienst wieder raus und nach Hause zu dürfen. Die Kinder können das nicht! 

 

Viele Fragen und neue Ideen drängten sich uns auf

 Nach etlichen Jahren hoch anstrengender, engagierter und letztlich unbefriedigend bleibender Arbeit im pädagogischen Gruppendienst, trieben uns inzwischen „alte Hasen“ folgende Fragen mehr und mehr um:

  • Was bedarf es, um diesen nach Liebe und Beziehung schreienden, tobenden Kindern und Jugendlichen gerecht(er) zu werden, sie besser halten, fördern und aufs Leben vorbereiten zu können, dafür zu sorgen, dass sie seelisch stabil erwachsen werden können, anstatt nur reine Schadensbegrenzung anzubieten oder sie hilflos von einer Einrichtung, Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Pflegefamilie zur nächsten zu schieben?
  • Welche institutionellen Bedingungen müssen geschaffen werden, um tragfähige, verlässliche, langfristige Beziehungen zu schaffen, um den Kindern die Chance auf einen sicheren und auch schönen, liebevollen Ort zu bieten, auf den sie sich bis zur Verselbständigung einlassen können?
  • Welche Hilfsangebote unsererseits bräuchte das Bezugssystem des Kindes, maßgeblich die Eltern, um ihre Kinder trotz ihrer Ambivalenzen, Wut, Scham- und Schuldgefühlen, bei uns gut leben zu lassen und an den meist zerrütteten Beziehungen zu ihren Kindern mitzuarbeiten?
  • Gerade an dieser Stelle die systemische Sichtweise unverzichtbar. Das (Ursprungs-) System der von uns betreuten Kinder darf nicht aus der Jugendhilfe geklammert werden. Eltern sind und bleiben Eltern und in den Köpfen und Herzen der Kinder die wichtigsten Menschen im Leben. Deshalb müssen sie zunehmend Teil der Jugendhilfepraxis werden. Welche systemischen Kompetenzen brauchen Fachkräfte?
  • Was brauchen Fachkräfte, um nicht in Hilflosigkeit, Gegenaggression, Resignation und/oder Erschöpfung bzw. Krankheit zu enden, zu stagnieren, aufzugeben, diesen enorm kräftezehrenden Herausforderungen standzuhalten oder als letzte Konsequenz den Job zu wechseln. In den meisten stationären Einrichtungen ist die Personalfluktuation dramatisch hoch – mit allen Konsequenzen vor allem für das Kind: ständiges Verlassen werden und permanente, schmerzhafte Beziehungsabbrüche. Wie kann es engagierten Fachkräften gelingen, in einem professionellen, wertschätzenden Kontakt mit allen Beteiligten verbleiben zu können?

Uns war klar: Wir können, trotz größtmöglichem Engagement unter diesen Bedingungen nicht gesund und glücklich an diesem Arbeitsplatz bleiben, den Kindern nur unzureichend oder teils gar nicht helfen. Wir träumten von einem Ort mit optimalen Bedingungen für alle im Kinderheim Lebenden und Tätigen und wollten unserer Vision folgen, indem wir eine professionelle Alternative schaffen.

 

Es geht auch anders!

Viele Einrichtungsleitungen denken, ihnen seien die Hände gebunden. Ob das wirklich so ist, wagten wir zu bezweifeln. Wir eröffneten als komplettes Team in einer geeigneten Immobilie in Seeshaupt auf der rechtlichen Grundlage eines gemeinnützigen Vereins 2007 die „Kinder- und Jugendhilfe Südsee e.V.“nach unseren Idealbedingungen und kindgerechten Vorstellungen. Das Konzept unserer „Villa Südsee“ haben wir den Jugendämtern vorgestellt und konnten den Großteil der uns anvertrauten Kinder mitnehmen.

Mit diversen zeit- und kräfteaufwendigen aber lohnenswerten Aktionen (z.B. Benefizkonzert mit den Münchner Philharmonikern, langjährig gepflegter Kontakt zum Lions-Club) gelang es uns das Vertrauen vieler spendenwilliger Unterstützer aus dem Starnberger See-Umkreis und damit eine größere Startsumme und Gelder für den laufenden Betrieb dauerhaft zu gewinnen. Ohne Fundraising geht es bei uns natürlich nach wie vor nicht.

Aufgrund der großen Nachfrage vonseiten der Jugendämter haben wir aufgestockt und betreiben mittlerweile zwei Häuser für je acht Kinder.

 

Konzeptionell besonders kindgerecht: Die Villa Südsee

Langjährige, tragfähige Beziehungen, Beständigkeit und Verlässlichkeit, sowie eine Atmosphäre von Wertschätzung, Gehalten-werdens, Sicherheit, Selbstwirksam- und Dazugehörigkeit.Das sind optimale Bedingungen, die Kindern und deren Eltern helfen, sich einzulassen und zur Ruhe zu kommen, trotz des großen Schmerzes und der enormen Wut nicht bei den Eltern aufwachsen zu dürfen

Konkret umgesetzt:

  • Eine kleine, familienähnlich konzipierte atmosphärisch schöne Wohneinheit ohne Institutionscharakter, gebettet inmitten einer überschaubaren Dorfstruktur mit maximal acht Kindern pro Gruppe als ein stabiler Ort ohne ständig drohendem Rauswurf.
  • Aufnahme von möglichst kleinen Kindern (ab vier Jahren), deren Rückführungschancen in ihre Ursprungsfamilie nach unserer Einschätzung gegen Null gehen und die im Schnitt bis zum 21. Lebensjahr bleiben können. Die Gruppe kann in großer Beständigkeit zu einem verlässlichen „Ersatz-Zuhause“ zusammenwachsen. Im Schnitt bleiben die Kinder 15 Jahre und gehen erst, wenn sie als junge Erwachsene selbständig sind.
  • Ein besonders hoher Personalschlüssel und wertschätzende Personalführung.
  • Stabile, langfristig zuständige, zufriedene, professionell und persönlich geschulte Mitarbeiter, die nicht über ihre Grenzen hinaus gehen müssen, um ihren Anspruch an die Hilfen für die Kinder und auch die Eltern möglichst gerecht zu werden.
  • Die Wertschätzung und das Angebot intensiver Einbeziehung der Eltern in Form von Familien- und/oder Elterntherapie/Elterncoaching im Rahmen der Jugendhilfemaßnahme durch therapeutisch geschultes Personal, was finanziell im Tagessatz normalerweise so nicht vorgesehen ist.
  • Ein auf jedes Kind zugeschnittenes Entwicklungskonzept mit individuellen pädagogischen Angeboten und Therapien ganz nach Eignung, Bedarf und Interesse des jeweiligen Kindes, wie z.B. Reittherapie, Hund-gestützte Therapie, Tonfeld-, Kunst-, Musiktherapie, Familientherapie mit Einbeziehung der Eltern oder sonstiger Angehöriger.

 

Der Erfolg gibt uns Recht

Die bei uns lebenden Kinder und Jugendlichen kamen sichtbar zur Ruhe und entwickelten sich optimal. Größere „Ausraster“, Verlegungen oder Unterbringungen in Psychiatrien haben Seltenheitswert. Aus sogenannten Förderschülern wurden z.B. Regel- und sogar Realschüler. Ihr entspannteres und zufriedeneres Wesen ermöglichte den Kindern eine gute Integration ins Dorfleben (Fußballverein, Tennisclub, Freiwillige Feuerwehr, Kinderturnen, Segeln, Pfadfinder etc.). Sie fanden zum ersten Mal in ihrem Leben echte Freundschaften im Dorf und außerhalb des Heims. Vorher waren sie oft einsam und flogen aufgrund ihrer mangelnden Impulskontrolle oder anderer „Fehltaten“ schneller aus Freizeit-Verbänden raus als man schauen konnte.

Das Pädagogenteam wurde um eine Vollzeitstelle aufgestockt. Das ist unserer Einschätzung nach der Schlüssel zum Erfolg und Glück! Die Pädagogen sind kaum mehr allein, meist zu zweit oder sogar zu dritt im Dienst, können sich bei gleichzeitig geringerem Kräfteaufwand wesentlich mehr/geduldiger/liebevoller um die Bedürfnisse aller kümmern. Es gab keinerlei Personalfluktuation in den ersten zehn Jahren nach Inbetriebnahme! Die Kinder erlitten, was ihre Bezugsbetreuer betraf, keinerlei Beziehungsverluste und damit keine weiteren frustrierenden, wutmachenden Enttäuschungen. Zufriedenheit und der Spaß an der Arbeit stellten sich wieder für alle Beteiligten ein.

Die zahlreichen Anfragen vonseiten aller ortsansässigen Jugendämter und anderen Institutionen überstiegen schnell unsere Kapazitäten. Mehr als acht Kinder konnten und sollten nicht bei uns wohnen. Wir hatten schließlich unsere Erfahrungen gemacht. Und bestehende Plätze werden selten frei. Zum Glück riss unser Spendenakquise-Erfolg nicht ab. Daher konnten wir 2015 ein zweites Haus errichten und mit neuem Personal und weiteren acht Kindern eröffnen: das „Haus Südsee“ in Seeshaupt. Die zusätzliche Vollzeitstelle wird nun auf die beiden Teams verteilt, auch das mit großem Erfolg.

 

Die Rechnung geht auf

Mehr Geld für mehr Personal, gute, wertschätzende Arbeitsbedingungen und ein flexibleres Konzept. Die Selbständigkeit und enorme Unterstützung durch Spender ermöglichen uns vor allem eigene, aufs Kindeswohl fokussierte Entscheidungen zu treffen und lassen alle Beteiligten zufriedener und stressfreier leben!

Durch vorausschauende, intensive Netzwerkarbeit schauen auch wir, dass ein teurer, freier Platz selten lange frei bleibt. Allerdings warten wir lieber auch mal länger auf das geeignete Kind für die jeweilige Gruppe und nehmen dafür einen finanziellen Verlust in Kauf. Das ist es uns wert.

 

Lesenswert ist auch das Interview mit Menno Baumann, Professor für Intensivpädagogik, der die Filmemacherin über Jahre begleitet und wissenschaftlich beraten hat. 

 


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