Familienrekonstruktion für Unternehmerfamilien
In Familien, die gemeinsam ein Unternehmen leiten, haben Familiengeschichten eine ganz besondere Bedeutung. Denn hier wirken diese Ereignisse nicht nur innerhalb der Familie, sondern infizieren auch die Stimmung und die Kultur im eigenen Unternehmen.
Virginia Satir, Begründerin der systemischen Familientherapie, schreibt, dass viele Menschen ihre Familiengeschichte dazu gebrauchten, ihre Gegenwart zu vergiften, woraus eine Zukunft entstehe, die wiederum die Vergangenheit wiederhole [Nerin, William (1989): Familienrekonstruktion in Aktion – Virginia Satirs Methode in der Praxis: p 13].
Auch Susanne Dahncke schildert in ihrem Interview, dass Themen aus der Familie in das Unternehmen hineingetragen werden und umgekehrt natürlich auch Themen aus dem Unternehmen in die Familie.
Die Methode der Familienrekonstruktion bietet an dieser Stelle eine ganz besondere Hilfestellung in der Arbeit mit Unternehmensfamilien.
Grundsätzlich unterscheiden wir zwei Herangehensweisen:
- Rekonstruktion der Familiengeschichte
- Rekonstruktion der Unternehmensgeschichte
Rekonstruktion der Familiengeschichte
Diese wird meist von den Unternehmensnachfolgern in der dritten Generation durchgeführt.
Rekonstruktion bedeutet, dass die vielfältigen Erinnerungen und Geschichten innerhalb der Familie gesammelt und erinnert werden. In diesem Kontext wird auch ein Genogramm erstellt.
Dabei werden ganz charakteristische Glaubenssätze innerhalb der Familie deutlich, und für alle wird verständlicher, wie einzelne Mitglieder der Familie an diese Glaubenssätze gebunden waren oder sind.
Beispiel
Herr W. leitet die Firma in dritter Generation. Immer häufiger belastet es ihn sehr stark, dass er es nicht schafft, eine gute Balance zwischen Familie und Beruf zu leben. Jede Entscheidung für die Familie empfindet er wie einen Verrat am Unternehmen.
In der Beratung setzt er sich mit der Geschichte der Familie, die eng mit der Geschichte des Unternehmens verwoben ist, auseinander.
Im Jahr 1945 musste die Familie ihre Heimat verlassen und kam in das damalige Westdeutschland. Und in dieser Situation beschlossen die Großeltern, wieder einen gemeinsamen Betrieb aufzubauen. Genauso, wie sie ihn in der alten Heimat besessen hatten. Dieser Wunsch, fast schon ein Trotz, es wieder zu schaffen, war ein wichtiger Antrieb innerhalb der Familie.
Und sie wurden sehr erfolgreich. Auch deshalb, da innerhalb der Familie den Kindern von klein an vermittelt wurde, dass der Wiederaufbau des Unternehmens das Allerwichtigste sei, und diesem Wunsch alles in der Familie geopfert wurde. Nichts war wichtiger als das Unternehmen. Keine Krankheit, keine Not, keine Belastung der Kinder wurde von ihnen als wichtiger erlebt, als die Arbeit für die Firma. Mit dieser Vehemenz und eindeutigen Kraft erzogen die Großeltern den Vater und er wiederum zusammen mit seiner Frau die eigenen Kinder, die Enkel, von denen Herr W. als ältester Sohn das Unternehmen übernehmen sollte.
Im Laufe der Familienrekonstruktion wurde ihm klar, weshalb diese Haltung im Jahr 1945 wichtig war, um nach der Vertreibung wieder eine Existenz für die Familie zu schaffen. Im Jahr 2016 ist diese Vehemenz nicht mehr notwendig. In diesem Wissen und mit dieser Differenzierung konnte Herr W. beginnen, die damalige Leistung seiner Großeltern und Eltern zu wertschätzen und gleichzeitig als erster in der Familie offen bedauern, dass dadurch die Bedürfnisse der Kinder immer hinten angestellt worden waren.
Und damit konnte er sich auch erlauben, nun, als neuer Unternehmensführer, eine neue Kultur zu beginnen, mit einer veränderten Priorisierung gegenüber Anliegen aus der Familie und aus dem Unternehmen. Seine eigenen Kinder mit ihren Anliegen und ihren Bedürfnissen durften in seinem Leben fortan wichtiger sein und damit die Belange des Unternehmens auch einmal hinten anstehen.
Rekonstruktion der Unternehmensgeschichte
Diese finden meist bei der Übergabe von Unternehmen an die nachfolgende Generation statt. Es geht darum, die Leistungen der vorhergehenden Generationen ritualisiert zu würdigen und zu verabschieden.
Beispiel
Herr G. hat sein Unternehmen als junger Mann Anfang der 80-er Jahre gegründet.
Er selbst stand noch in der Produktionshalle. Und lange Zeit war er tatsächlich noch der beste Techniker im Haus. Er hörte am Summen der Maschinen, ob sie gut liefen.
Jetzt hat er das Unternehmen an seinen Sohn übergeben. Der hat studiert und leitet das Unternehmen anders wie der Vater. Sein Vater ist noch jeden Tag im Unternehmen, vor allem in der Produktion, spricht mit den Produktionsleitern und den Meistern, legt immer noch mit Hand an und hilft, wo er nur kann.
Der Sohn hört, dass sein Vater häufig stört, die Teams von der Arbeit abhält und die Führungskräfte in lange Gespräche verwickelt, die sich diese nicht beenden trauen.
Deshalb ist er ärgerlich und enttäuscht. Ärgerlich, weil er sich hintergangen fühlt, enttäuscht, weil er denkt, dass sein Vater ihm die Leitung des Unternehmens zwar übergeben hat, aber immer noch nicht wirklich zutraut. Der Vater findet, dass sich sein Sohn, wie meistens, viel zu viele Gedanken macht und auch zu empfindlich ist. Früher hätten sie hier in der Firma einen anderen Umgangston gehabt, unter Männern, weniger Meetings und mehr vom Wesentlichen!
Der Sohn kann seinen Vater überreden, gemeinsam zu einem Coach zu gehen. Der Coach lässt sich in der ersten Sitzung die Unternehmensgeschichte berichten. Während der Vater erzählt, notiert er die wichtigen Stationen der Entwicklung auf Moderationskarten und hängt sie auf.
Dazu erzählt der Vater auch Geschichten von schweren Zeiten, Erfolgen und Misserfolgen der letzten dreißig Jahre. Zusammen mit der Zeittafel, die sich an der Pinwand entwickelt, entsteht so ein umfassendes Bild der Leistung des Vaters und der Mitarbeiter. Zum ersten Mal hört der Sohn diese Geschichte zusammenhängend und nicht als Sohn zuhause am Abendessenstisch als Anekdoten. Er hört sie als neuer Geschäftsführer von seinem Vorgänger in einem professionellen Kontext. Und zum ersten Mal kann er seinem Vater dafür auch seinen Respekt und seine Anerkennung ausdrücken.
Es ist ein feierlicher Moment für beide, so als würde das Unternehmen erst in diesem Moment tatsächlich übergeben werden, der Vater kann nun, da er für seine Leistung Wertschätzung erfährt, innerlich mehr loslassen und der Sohn wird dadurch, dass er seine Wertschätzung ausdrückt und seinem Vater mit Respekt begegnet, vom „trotzigen, vorwurfsvollen“ Sohn zum wirklichen Nachfolger.
In dieser neuen Haltung zueinander können beide anders miteinander verhandeln und neue Regeln im Umgang festlegen. Die Besuche beim Coach gehen weiter, und ab und zu legt einer von beiden auch eine „Ehrenrunde“ ein. Die Grundstimmung zueinander kann jedoch immer wieder erinnert werden und ermöglicht beiden, und damit auch dem Unternehmen, einen respektvollen Übergang.