Vom Alkoholismus zum inneren Team. Aufstellungen verdeutlichen (fast) alles.
Warum es sich lohnt, das Buch "Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen" von Diana Drexler zu lesen.
Den Hund. Das abgetriebene Kind. Familiäre Täter- und Opfergeschichte(n) aus nationalsozialistischer Zeit. Eine akute Krankheit oder schlicht das Glück: Wen und was man nicht alles aufstellen kann! Und was die Aufstellung nicht alles kann: Das Verhältnis einer Mutter zu ihren Kindern klären helfen, Bindungsschwierigkeiten verstehbar machen, individuelle oder kollektive Geheimnisse ans Licht holen, ‚work‘ und ‚life‘ in ‚balance‘ bringen. Diana Drexler stellt die Praxis der Systemaufstellungen oder man könnte auch sagen: die Praktiken der Systemaufstellung als eine schiere Allzweckwaffe für Coaches, Therapeuten, Organisationsberater dar. Ein – übrigens als stark Made in Germany wahrgenommenes – Verfahren, das sich gleichermaßen blindgläubiger Verklärung und heftigen Anfeindungen zu erwehren hat. Und das vielleicht gerade deshalb in so vielen und so unterschiedlichen begrifflichen Bemäntelungen daherkommt: Systemchoreografie, bewegte Skulptur, Serious Play etc.
Die Autorin ist Psychotherapeutin in eigener Praxis, Leiterin des Wieslocher Instituts für systemische Lösungen (WISL) und Lehrtherapeutin und Supervisorin für Verhaltenstherapie, Systemische Therapie und für Systemaufstellungen (DGfS), kurzum: sie weiß, wovon sie schreibt. Sie hatte, bemerkt sie selbst, beim Verfassen des Buches einen Spagat zu leisten: Die Aufstellerin in ihr, die sich in theoretischen Beschreibungsversuchen nicht ganz wiederfindet, versus die kognitive, Theorieinteressierte in ihr, der das allzu Konkrete manchmal befremdlich wird. Sie nimmt sich vor, diesen Spagat mit dem schönen Satz zu bewältigen: „Manchmal denke ich; und manchmal bin ich.“
In diesem Sinne hätte man der Autorin gewünscht, dass sie beim Schreiben gelegentlich etwas mehr „gewesen“ wäre. Denn den von ihr beschriebenen Spagat merkt man dem Buch immer wieder an: Unnötig trockener, vermeintlich wissenschaftlich-seriöser Nominalstil wechselt sich ab mit erfrischenden, lebensnahen und teilweise auch ironisch–humorvollen Passagen. Mit gut gewählten, prägnant formulierten, bisweilen schlicht verblüffenden, häufig eingestreuten Schnappschüssen aus Seminaren, Therapiesitzungen oder sonstigen Aufstellungsarbeiten verdeutlicht die Autorin hier einprägsam und von leichter Hand das, wofür die Leserin an anderen Stellen absätzeweise theoretische Schwerarbeit leisten muss.
Ein subjektives, inneres Bild von Beziehungen in eine räumliche Darstellung übersetzen, quasi als verdichtete Beschreibung von Verhältnissen, Abhängigkeiten, Konflikten: Das ist für Drexler der Kern von Aufstellungsarbeit. Ihr Zweck: Prozesse von Beratung oder Therapie intensivieren, verkürzen, beschleunigen helfen. Ein Ritual, das – so ein besonders eingängiges Bild – einen Teilnehmer vom Ufer eines Problems, das er verlassen möchte, an ein neues, irgendwie anderes Ufer zu bringen vermag. Denn die gelungene Aufstellung schafft eine zweite, doppelte Realität: Die Klientin, deren Anliegen von Stellvertretern aufgestellt wird, kann der eigenen Stellvertreterin und somit quasi sich selbst über die Schulter schauen – und im Verlauf des Prozesses in das Bild und die sich darin und daraus ergebenden Gefühle, Veränderungen, Optionen hinein treten. Aufstellung also auch als diagnostischer Test, als Probehandeln. Denn die Aufstellung schafft, sehr frei nach Luhmann, eine Überzeugungskraft aus dem Moment heraus, die sich niemals vorher und niemals hinterher ergeben kann.
Das Buch ist als Einführung gedacht, es ist durchaus lesbar und lesenswert für Alle, die sich mit Aufstellung beschäftigen (wollen). Es gibt einen gründlichen Einblick in das Woher, das Wozu und das Wohin der Aufstellungsarbeit. Den von ihr vertretenen Ansatz beschreibt sie als „systemisch-integrativ“, Drexler will die klassische Aufstellungsarbeit mit neueren Körper-orientierten Therapietraditionen und Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften verbinden. Schritt für Schritt, anschaulich und nachvollziehbar, schildert sie das Standardverfahren der Heidelberger Forschungsgruppe zur Wirksamkeit von Systemaufstellungen um Gunthard Weber und sie selbst.
Immer wieder wendet sich die Autorin, in guter systemischer Denk-Tradition, gegen einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, wirbt für ein Denken in Wechselwirkungen und Verstrickungen. Die Wahrheit der Aufstellung als etwas nicht gefundenes sondern erfundenes und ausgehandeltes, der Vorrang der subjektiven Erfahrung vor allgemeinen und verallgemeinerbaren Theorie, die Markierung von Hypothesen als Hypothesen und eben nicht als Wissen: Das ist Drexler wichtig. Und das grenzt ihr Verständnis von Aufstellungsarbeit von anderen Ansätzen – hier muss nun der Name Hellinger fallen – ab. Dabei geht die Autorin auch auf die Gefahren und Verlockungen des Verfahrens, die vor allem in der starken Leiterzentrierung des Stellens liegen. Besserwissen, Vordenken, Rechthaben: Das kann leicht, darf aber eigentlich nicht passieren bei einer guten Aufstellung im Sinne der Autorin.
Bleibt die Aufstellungsarbeit ein eigenständiger Ansatz oder wird sie als bloße Technik, als Tool in den gängigen Therapierichtungen aufgehen? Das ist eine der großen Fragen, mit der uns Diana Drexler aus der Lektüre entlässt. Was aber jetzt genau so erstrebenswert an ersterem und so bedenklich an letzterem wäre, das wird nicht wirklich schlüssig ausgeführt. Macht aber nichts, denn dazu hat das Buch schon viel zu viel Interesse an und, ja: Lust auf Aufstellung geweckt.
Diana Drexler: Einführung in die Praxis der Systemaufstellungen. Carl-Auer Systeme Verlag 2015. 14,95 €.
Unser Absolvent Christian Thiele arbeitet als Systemischer Coach und Trainer in Garmisch-Partenkirchen.